Der Begriff „Gefährdungsneigung“ und seine Anwendbarkeit

 

Orientierung an den Schwächeren

Bei der Beurteilung von Medieninhalten unter Jugendschutzgesichtspunkten wird oft auf die „gefährdungsgeneigten“ Kinder und Jugendlichen hingewiesen, unter anderem in Gesetzeskommentaren und in den Richtlinien der Landesmedienanstalten (JuSchRiL):

„Die Beurteilung der Beeinträchtigung hat an den schwächeren und noch nicht so entwickelten Mitgliedern der Altersgruppe zu erfolgen. Die mögliche Wirkung auf bereits gefährdungsgeneigte Kinder und Jugendliche ist angemessen zu berücksichtigen“ (JuSchRiL 3.1.2).

Entsprechend gilt auch  für die Prüfungen bei der FSF eine Orientierung an den schwächeren und „gefährdungsgeneigten“ Kindern und Jugendlichen. Doch wer ist damit gemeint?

Entstehungsgeschichte des Begriffs „Gefährdungsneigung“

Heben die gesetzlichen Jugendschutzmaßnahmen auf den durchschnittlichen oder auf den besonders gefährdeten Jugendlichen ab? Die Entstehungsgeschichte des Begriffs „Gefährdungsneigung“ offenbart zu dieser Frage widersprüchliche Auslegungen durch verschiedene Instanzen. So ging der Bundesgerichtshof in einem Urteil aus dem Jahr 1955 und mit Blick auf das Aushängen von Tom-Mix-Heften und der Piccolo-Bildserie El Bravo – Das rote Haus davon aus, es komme „nicht nur auf den Durchschnittsjugendlichen und erst recht nicht auf den vom Elternhaus her behüteten und vielleicht innerlich schon gefestigten Jugendlichen [an], sondern auch auf den infolge Anlage, mangelhafter Erziehung oder ungünstiger Wohnverhältnisse für schädliche Einflüsse besonders anfälligen Jugendlichen“ (AZ 1 StR 172/55).

Diesem Ansatz, der von der unterschiedlichen Schutzbedürftigkeit von Jugendlichen ausgeht, folgt die Praxis der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) seit den 1960er-Jahren. Indizierungsbegründungen verweisen oft darauf, dass eine Schrift für moralisch gefestigte Jugendliche unschädlich sei, anfälligen oder labilen Jugendlichen aber durchaus Schaden zufügen könne. Eine andere Auffassung vertrat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil aus dem Jahr 1966 zu Ulrich Schamonis Roman Dein Sohn lässt grüßen. Mit Verweis auf die Beschränkung des Informationsrechts Erwachsener durch eine Indizierung schlussfolgert der V. Senat, „dass der literarische Jugendschutz nur der ungestörten Entwicklung der durchschnittlichen Jugend zu dienen bestimmt“ sei (BVerwG V C 47.64). Die Kommentare zu beiden Grundsatzpositionen sind zahlreich.

Der Begriff des „gefährdungsgeneigten“ Jugendlichen findet erstmals 1971 Eingang in die Rechtsprechung und erscheint in einem Urteil des 1. Senats des Bundesverwaltungsgerichtes über die Indizierung einer Ausgabe des „Stern“ (wegen des Fortsetzungsromans Die Sünden der Söhne) gleichberechtigt neben dem Begriff „labil“. Das Gericht führt aus:

„Auch die labilen Jugendlichen sollen und müssen vor einer Gefährdung ihrer Entwicklung geschützt werden. Extremfälle völliger Verwahrlosung und krankhafter Anfälligkeit sind außer Betracht zu lassen. Die anzulegenden Maßstäbe müssen daher entgegen BVerwGE 25,318 (322) von dem Jugendlichen schlechthin, einschließlich des gefährdungsgeneigten Jugendlichen ausgehen“ ( Urt. v. 16.12.1971, Az.: BVerwG I C 31.68).

Seit diesem Zeitpunkt werden in zahlreichen Gerichtsurteilen die Begrifflichkeiten „labil“ und „gefährdungsgeneigt“ synonym verwendet.

Anwendung in der Prüfpraxis: Diskussion im Einzelfall ...

Genauso wenig wie den „Durchschnittsjugendlichen“ gibt es auch den „gefährdungsgeneigten“ Jugendlichen. Wer in Bezug auf welchen Inhalt als gefährdungsgeneigt gelten kann, muss im Einzelfall diskutiert werden. Je nach Medienangebot sind unterschiedliche Gruppen besonders anfällig für mögliche schädliche Wirkungen:

  • Angstreaktionen auf Actionspektakel sind eher bei sensiblen Kindern mit geringer Medienerfahrung zu erwarten;
  • den Werbeversprechen der Schönheitsindustrie werden eher labile, wenig selbstbewusste Jugendliche Glauben schenken, die entsprechendem sozialen Druck ausgesetzt sind;
  • die befürwortende Darstellung von Gewalt ist insbesondere für Heranwachsende aus einem gewaltbereiten Umfeld ein Problem.

Somit richtet der Jugendmedienschutz den Blick stets auf Gruppen von Heranwachsenden in besonderen Gefährdungslagen, während andere, die emotional stabil sind und in einem intakten sozialen Umfeld leben, von einem identischen Angebot nicht gefährdet sind.

... aber keine Orientierung an Extremen

Das kann andererseits nicht dazu führen, den Begriff des „Gefährdungsgeneigten“ zum absoluten Maßstab zu machen. Er muss immer einen Bezug zur Aussage und Tendenz eines Angebotes haben. Ein herkömmlicher Krimi, in dem der Täter am Ende seine Strafe erhält, wird in der Regel als nicht entwicklungsbeeinträchtigend für 12-Jährige eingeschätzt, obwohl es Jugendliche geben mag, die mit dem Täter und seiner kriminellen Handlung sympathisieren. Eine Make-over-Show, in der sich eine 45-Jährige eine kiloschwere Hautschürze operieren lässt, ist nicht gleich entwicklungsbeeinträchtigend, obwohl es viele Jugendliche gibt, die mit ihrem Äußeren unzufrieden sind und bereit zu einem chirurgischen Eingriff wären. Und mancher Fantasyfilm mit einem ausgewogenen Anteil von moderater Action und Ruhephasen kann auch im Tagesprogramm gezeigt werden, obwohl es Kinder geben mag, die sich bereits bei weniger turbulenten Szenen erschrecken. Extremfälle dieser Art können nicht berücksichtigt werden. Gleichzeitig erscheint eine pauschale Bagatellisierung von Gefährdungspotenzial mit Verweis auf normale, genrekompetente und deshalb „immune“ Kinder und Jugendliche nicht sachgerecht.

Fazit

Inwieweit es angemessen ist, die Prüfentscheidungen an den besonders anfälligen Kindern und Jugendlichen auszurichten, muss also im Einzelfall abgewogen werden. In den Ausschussdiskussionen ist daher die genaue Analyse des Angebotes wesentlich. Mögliche entwicklungsbeeinträchtigende Wirkungen werden relativierenden Faktoren gegenübergestellt und mit Blick auf die fragliche Altersgruppe und besondere Gefährdungslagen abgewogen. Nicht immer wird dabei explizit darauf hingewiesen, welche Gruppe von Heranwachsenden in Bezug auf den konkreten Inhalt als anfällig für negative Wirkungen angesehen wird. Vor diesem Hintergrund kann eine gezielte Betrachtung des Begriffs „Gefährdungsneigung“ dazu beitragen, implizite Wirkungsannahmen offenzulegen, das entwicklungsbeeinträchtigende Potenzial eines Angebotes zu spezifizieren und damit die Transparenz von Prüfverfahren zu erhöhen.

 

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