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Wirkungsrisiko „Sozialethische Desorientierung“

 

Fernsehen und Wertevermittlung

Kritik und Beschwerden zum Fernsehen stehen häufig in Zusammenhang mit Wertefragen. Zuschauer kritisieren eine niveaulose Sprache oder ein aggressives Auftreten von Gästen in Fernsehshows, die Behandlung sexueller Themen am Nachmittag oder Angebote, die den Alkohol- oder Drogenkonsum von Jugendlichen zeigen. Sie befürchten, dass sich die gezeigten Einstellungen und Verhaltensweisen zuschauenden Kindern und Jugendlichen vermitteln und sozialethisch desorientierend auf Minderjährige wirken. Entsprechend ist im Jugendmedienschutz zu fragen: Wie weit geht der Einfluss des Fernsehens bei der Entwicklung von moralischen Urteilen und Wertekategorien? Unter welchen Bedingungen ist eine Desorientierung aufgrund medialer Vorbilder wahrscheinlich? Und welche Programme werden unter dem Gesichtspunkt der sozialethischen Desorientierung problematisiert?

Orientierung im Wertepluralismus

Wertorientierungen entwickeln sich im Vor- und Grundschulalter und festigen sich erst allmählich. Jüngere Kinder orientieren sich an den Werten ihrer Bezugspersonen. Erst wenn sie älter werden, lernen sie, diese Werte kritisch zu prüfen. Spätestens in der Pubertät beginnen Jugendliche, eigene Wertvorstellungen zu entwickeln. Werte werden durch prägende Erfahrungen verinnerlicht, entsprechend müssen sie den Menschen auf einer tiefen emotionalen Ebene erreichen. Wesentlich für die Entwicklung des eigenen Wertehorizontes ist das persönliche Umfeld. Bezugspersonen, Familie, Schule, Freunde oder Vereine bieten eine Vielzahl verschiedener Wertemodelle, die sich widersprechen oder gegenseitig verstärken können. Auch in Mediendarstellungen finden sich unterschiedliche Werte, Normen und Rollenmuster. Indem die Medien verschiedene gesellschaftliche Positionen vermitteln, spiegeln sie den Wertepluralismus der Gesellschaft.

Wirkungsrisiken

Als sozialethisch desorientierend gelten Inhalte, die Einstellungen und Verhaltensweisen als normal, allgemein akzeptiert oder positiv darstellen, die im Widerspruch zum Wertekanon des Grundgesetzes stehen (§ 5 Abs. 1 JMStV). Indikatoren für eine sozialethische Desorientierung sind gemäß § 31 Abs. 3 Nr. 3 der FSF-Prüfordnung insbesondere

  • unzureichend erläuterte bzw. kritiklose Darstellung realen oder realitätsnahen Gewaltgeschehens (z.B. Krieg);
  • die kritiklose Präsentation von Vorurteilen, Diskriminierung und antisozialem Verhalten;
  • die befürwortende Darstellung abwertender Rollenklischees;
  • befürwortende Darstellungen entwürdigender sexueller Beziehungen und Praktiken;
  • die befürwortende Darstellung von physisch oder psychisch schädigendem Risikoverhalten.

Sozialethisch desorientierende Inhalte

Wertefragen: antisoziales Verhalten und Diskriminierung

Nach gängiger Spruchpraxis sind Inhalte sozialethisch desorientierend, wenn sie antisoziales Verhalten fördern. Dazu gehören die unkommentierte Darstellung von Mobbing, Bullying (Aggression unter Schülern) oder Happy Slapping (gezieltes Schlagen von anderen zum Zwecke der Aufnahme von Filmen oder Bildern). Als sozialethisch desorientierend gelten auch die Darstellung von Drogenkonsum oder anderweitig selbstschädigendem Verhalten. Auch die Diskriminierung von Minderheiten oder eines Geschlechts oder die sprachliche Herabwürdigung einzelner Personen werden als sozialethisch desorientierend eingeschätzt. Weitere desorientierende Inhalte sind Voyeurismus gegenüber menschlichem Leid, Waffenbegeisterung und die Heroisierung von Krieg.

Problematische Genres

Bei bestimmten Genres wird die sozialethische Desorientierung besonders intensiv geprüft. "Real-Life-Dokumentationen" über straffällige Jugendliche werden problematisiert, wenn die Inszenierung von Aggression den Eindruck von "Coolness" vermittelt und die Gewalt attraktiv wirken könnte. Sendungen, die Schönheitsoperationen thematisieren, sind desorientierend, wenn sie den Druck auf Kinder und Jugendliche erhöhen, Schönheitsidealen nachzueifern. Stunt- und Comedyshows sind problematisch, wenn sie Selbstverletzungen verharmlosen. Auch Unfallshows, bei denen der voyeuristische Charakter überwiegt, können die Empathiefähigkeit von Kindern und Jugendlichen beeinträchtigen.

Kontext, Kommentar oder Moderation sind zentral

Inwieweit Medieninhalte geeignet sind, das Wertebild von Kindern und Jugendlichen negativ zu beeinflussen, hängt von der Fähigkeit der jeweiligen Altersgruppe ab, problematische Aussagen einzuordnen und zu hinterfragen. Wichtig ist auch, ob sie innerhalb der Sendung kritisch kommentiert werden. Wirkungsrelevant werden die oben genannten Inhalte bei einer unkritischen oder einseitig positiven Darstellung. Von großer Bedeutung sind somit der Kommentar und die kontextuelle Einordnung von "Reality Shows" durch die Moderation. Indem sie kritisch Stellung nehmen, können Moderationen in der Sendung oder eine Einordnung per Kommentar eine Distanzierung nahelegen und Orientierung bieten.

Altersfreigaben

Bei jüngeren Kindern sind die Wertorientierungen noch nicht gefestigt. Wesentlich ist mit Blick auf Zuschauer unter 12 Jahren daher, ob eine Vorbildwirkung auf Kinder oder der Eindruck von Normalität des gezeigten Verhaltens entsteht oder ob Kindern verständliche Orientierungshilfen geboten werden.

Ab 12-Jährige haben bereits relativ gefestigte Verhaltensgrundmuster und Einstellungen entwickelt, die nicht ohne Weiteres durch Medieninhalte veränderbar sind. Eine direkte Orientierung an Figuren oder Handlungsmustern ist daher unwahrscheinlich. Gleichzeitig werden ideologische Perspektiven und Vorbilder relevant. So wird in der Pubertät das Verhalten gegenüber dem anderen Geschlecht wichtig. Auch die Abgrenzung der eigenen Gruppe gegenüber anderen gewinnt an Bedeutung. Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren lösen sich allmählich vom Elternhaus und sind für alternative Wertvorstellungen und Lebensweisen empfänglich. Neben der Gesamtaussage eines Programms sollte bei dieser Altersgruppe daher ein besonderes Augenmerk auch auf (Teil-)Angebote und Modelle in Programmen gerichtet werden, die sozialethisch desorientierende Verhaltensweisen propagieren.

Jugendliche ab 16 Jahren verfügen bereits über eine relativ gefestigte Werteorientierung, die es ihnen ermöglicht, sich auch mit problematischen Medieninhalten kritisch auseinanderzusetzen. Sozialethisch desorientierende Momente können von ab 16-Jährigen vor dem Hintergrund des eigenen Wertehorizontes reflektiert werden, sofern das Programm nicht in seiner Gesamttendenz grundgesetzlich geschützte Werte in Frage stellt. Auch bei der Einschätzung sozialethisch desorientierender Wirkungsrisiken ist bei einer Freigabe ab 16 Jahren besonderes Augenmerk auf die Jugendaffinität und Alltagsrelevanz einer Darstellung zu richten.

 

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