Ehrgeiz und Exzess

Damien Chazelles „Babylon – Rausch der Ekstase“ ist ein kunstvolles Kaleidoskop von Klischees

David Assmann
BABYLON – RAUSCH DER EKSTASE (© 2022 Paramount Pictures. All Rights Reserved.)
Babylon – Rausch der Ekstase
USA 2022Drama
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RTLZWEI
Zu sehen
am 01.01.2025

Die Erfindung des Tonfilms war weder die einzige noch die schwerste disruptive Krise Hollywoods. Spätestens seit Singin’ in the Rain im Jahr 1952 ist sie aber zu so etwas wie filmhistorischer Folklore geworden. Der Umbruch, den der Tonfilm hervorbrachte, ist wenig abstrakt. Es lässt sich darum anschaulicher von ihm erzählen als beispielsweise vom Zusammenbruch des Studiosystems oder von den Herausforderungen der Digitalisierung.

Dazu kommt, dass der filmtechnische Fortschritt Ende der 1920er-Jahre mit einem weltgeschichtlichen Epochenwechsel zusammenfällt: Auf die ungezügelten Roaring Twenties folgen die von der Weltwirtschaftskrise gebeutelten Dreißiger. Während das Filmedrehen mit den Erfordernissen des Tonfilms sehr viel schwieriger wird, kippt der Zeitgeist von Aufbruchsstimmung in Große Depression. Stummfilmstars landen auf der Straße, zusammen mit einem Viertel der erwerbsfähigen Bevölkerung. Gleichzeitig nimmt die zuvor zahnlose Zensur in Form eines strengen Sittenkodex Einfluss auf Inhalt und Inszenierung der Filme.

60 Jahre nach Singin’ in the Rain setzte The Artist dieser Epoche erneut ein filmisches Denkmal. Dieses Mal nicht mit der Virtuosität und Perfektion des klassischen Hollywoodmusicals, sondern mit einem eher technisch-formalen Zugang: Regisseur Michel Hazanavicius erzählt die Geschichte vom Abstieg eines Stummfilmstars mit den Mitteln des Stummfilms, das heißt in Schwarzweiß, mit Texttafeln – und einem einzigen gesprochenen Satz zum Schluss, wenn der Film die Transformation zum Tonfilm selbst vollzieht.

Wiederum zehn Jahre später rollt nun Babylon – Rausch der Ekstase das Kapitel neu auf und erzählt von Aufstieg und Fall in Hollywood um 1930. Regisseur ist Damien Chazelle, ein genuines Wunderkind à la Soderbergh oder Tarantino, der noch keine 30 Jahre alt war, als sein Erstling Whiplash direkt für einen Oscar als bester Film nominiert wurde, und der für seinen Zweitling La La Land die begehrte Trophäe sogar in den Händen halten durfte – zumindest für knapp zweieinhalb Minuten (siehe Oscarverleihung 2017).
 

Trailer Babylon – Rausch der Ekstase (ParamountPicturesGER, 20.09.2022)


Wie seinen Vorgängern geht es auch Chazelle nicht um historische Akkuratesse, sondern um eine durch und durch filmische Durchdringung des Materials. Er macht sich den grenzenlosen Ehrgeiz und den hemmungslosen Exzess, für den die 20er-Jahre sinnbildlich stehen und der auch die Protagonisten von Babylon kennzeichnet, als ästhetisches und dramaturgisches Prinzip zu eigen. Dafür montiert er alles, was man gemeinhin mit der betreffenden Epoche verbindet, zu einem mehr als dreistündigen rauschhaften Bilderstrom. Vergleichbar vielleicht mit Baz Luhrmans Moulin Rouge, wenn auch ungleich radikaler, ist Babylon ein kunstvolles Kaleidoskop von Klischees, die hier bisweilen atemberaubend aufgetürmt und virtuos verdichtet werden. Dass dieses additive Verfahren des Aufeinanderschichtens von glitzernden Oberflächen zwar dramatische Höhe, aber kaum psychologische Tiefe erzeugt, nimmt Chazelle – wie Luhrman – in Kauf.

Es ist schwer, nicht beeindruckt zu sein von Chazelles mitreißender Erzählweise, der rhythmischen Montage, dem hyperbolischen Aberwitz des Gezeigten und des Films selbst. Genauso schwer ist es allerdings, nicht irgendwann von ebendieser Erzählweise erschöpft zu sein, wenn der kognitive Arbeitsspeicher überlastet ist und manche Wendung beliebig wirkt. Nicht jede Idee ist so genial wie der Schluss, wenn der Protagonist nach einem Zeitsprung von 20 Jahren ins Kino geht und dort in Singin‘ in the Rain die Verfilmung dessen sieht, was er als junger Mann in Hollywood erlebt hat. Das Geschehen auf der Kinoleinwand geht über in ein rasantes assoziatives Mosaik aus diversen Bildern der Filmgeschichte, das schließlich in einen psychedelischen Farbenrausch à la 2001 mündet. So zerlegt sich der Film am Ende konsequent in seine Bestandteile, als Produkt der Filmgeschichte, als Kombination von Farben.
 

 

Freigegeben ab 12 Jahren | ab 20 Uhr
 

 

Die FSF prüfte eine Schnittfassung des 2023 von der FSK ab 16 Jahren freigegebenen Films, in der die drastischsten Gewaltspitzen und sexuellen Darstellungen sowie sprachlichen Zynismen und Derbheiten entfernt worden waren. Die entlastenden und distanzierenden Aspekte wurden in dieser gekürzten Fassung für ausreichend befunden, um ab 12-Jährigen eine Rezeption ohne abträgliche Effekte zu ermöglichen.

Die Erzählweise des Films wurde als intensiv und rauschhaft empfunden, was auch unter 16-Jährige zu einer immersiven Rezeption mitreißen kann. Die Protagonisten Manuel und Nellie sind mit ihrer einfachen Herkunft und ihren großen Ambitionen zudem auch für jüngere Jugendliche potenziell anschlussfähige Identifikationsfiguren. Allerdings ist der Film deutlich in einer historischen Epoche und einem fernen Land angesiedelt. Die mit dieser Epoche verbundene Dekadenz wird in grell ausgemalten Klischees satirisch überzeichnet dargestellt, was das Geschehen weiter von der Lebensrealität Jugendlicher entrückt und als klar filmisch-fiktional kennzeichnet. Der Drogenkonsum erscheint zu keinem Zeitpunkt attraktiv oder nachahmenswert. Sexualität ist nur noch andeutungsweise enthalten. Das N-Wort ist in seinen historischen Kontext eingebettet. Zwei Suizide sind zurückhaltend ins Bild gesetzt und durch die Handlung ausreichend eingeordnet. Der exzessive und bisweilen selbstzerstörerische Lebensstil im Hollywood der Stummfilm- und frühen Tonfilmzeit wird zwar nicht explizit kritisch eingeordnet, in seiner Übertreibung aber auch nicht normativ oder affirmativ dargestellt.

Über den Autor:

David Assmann ist freier Filmkritiker, Filmemacher und Filmwissenschaftler. Er ist Mitglied des Auswahlgremiums für die Berlinale-Sektion „Generation“ und in der Jury für den Grimme-Preis „Kinder & Jugend“. Seit 2022 ist er auch hauptamtlicher Prüfer bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).

Bitte beachten Sie:

Bei den Altersfreigaben handelt es sich nicht um pädagogische Empfehlungen, sondern um die Angabe der Altersstufe, für die ein Medieninhalt nach Einschätzung der Prüferinnen und Prüfer keine entwicklungsbeeinträchtigende Wirkung hat.

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