Von Tätern und Opfern

Das Historiendrama „Stella. Ein Leben.“

Sibylle Kyeck
STELLA. EIN LEBEN. (© Majestic/Christian Schulz)
Stella. Ein Leben.
D/AU 2023Drama
Anbieter
Sky Cinema
Zu sehen
08. u. 21.03.2025

Alles beginnt und endet mit dem Blick in den Spiegel. Stella schminkt sich, bereitet sich vor. Aufs Leben und aufs Sterben. Von beidem handelt Kilian Riedhofs Film. Dicht und unangenehm eindringlich erzählt er das von wahren Begebenheiten inspirierte Historiendrama. Es geht um Stella Goldschlag, eine junge Jüdin, die im „Dritten Reich“ für die Gestapo als sogenannte Greiferin arbeitet. Ihre Aufgabe: andere Jüdinnen und Juden verraten. Damit kann sie sich und ihre Eltern vor der Deportation retten. Als Opfer der Umstände wird sie selbst zur Täterin und ist am Ende Opfer und Täterin zugleich. So überlebt sie den Krieg, findet aber keinen Weg (zurück) ins eigene Leben und beendet dieses 1994 durch Suizid.

Doch am Anfang ist Hoffnung. Berlin 1940. Wer als Jüdin oder Jude jetzt noch in Nazi-Deutschland ist, will nur noch weg. So auch Familie Goldschlag. Doch die Ausreisepläne scheitern. Stella ist blutjung, bildhübsch, träumt vom Broadway – und will ihr Leben bei den Hörnern greifen: „Let’s misbehave“, singt sie. Und meint es ernst. Drei Jahre später sind alle Hoffnungen dem verzweifelten Kampf ums Überleben gewichen. Als Stella und ihre Mutter nur knapp der Deportation entgehen, taucht die Familie Goldschlag unter. Stellas erster Mann kommt ins Konzentrationslager. Sie wird verraten und gefoltert, bevor sie selbst zur Verräterin wird.

Als die Gestapo sie eines Tages beim Verkauf gefälschter Pässe erwischt, wird sie vor die Entscheidung gestellt: Entweder sie denunziert andere untergetauchte Juden oder sie und ihre Eltern werden nach Auschwitz deportiert. Sie entscheidet sich für den Verrat, um zu überleben – und wird damit zur ambivalenten Figur. Zur Antiheldin des Films. Die schöne böse Jüdin, die mit den Nazis gemeinsame Sache macht. Weil sie gezwungen wird. Das zeigt der Film eindrücklich.

Aber er zeigt auch immer wieder die andere, die hedonistische Seite der Hauptfigur: Wenn Stella sich in den draufgängerischen Passfälscher Rolf Isaaksohn verliebt und mit ihm als skrupelloses Duo den Berliner Schwarzmarkt erobert; wenn sie ohne Davidstern mit ihren blauen Augen den SS-Offizieren auf dem Ku’damm den Kopf verdreht und auch wenn sie alte Bekannte an die Gestapo verrät. Stella will überleben, aber auch erleben und einfach leben. Mit allen Sinnen. Koste es, was es wolle.

Trailer Stella. Ein Leben. (Paramount Plus DE, 16.09.2024)


Das macht sie als Identifikationsfigur angreifbar und letztlich unmöglich, und trotzdem bleibt sie ambivalent. Denn es gelingt Kilian Riedhof, uns diese junge, lebenshungrige Frau ungewohnt nahezubringen, indem er konsequent aus ihrer Perspektive erzählt. Wir sehen alles mit ihren Augen, blicken immer wieder mit ihr in den Spiegel. Distanz sieht anders aus. Was hättest du getan? Diese Frage steht nicht nur auf den Kinoplakaten zum Film, sondern schwingt in jeder Szene mit. Auch, weil Paula Beer die Stella verkörpert – und nicht spielt. Jeder Ton und jede Geste sitzen. Uns trifft die Arroganz genau wie die Verzweiflung. Wir sehen ihr die Widersprüche ihres Lebens an – und kommen ihr so beängstigend nah. Auch wenn sie das gar nicht will – wie nach dem Krieg. Da hat Stella bereits zehn Jahre in einem russischen Gefangenenlager gesessen und steht erneut vor Gericht, als sie ihr alter jüdischer Freund Aaron in einem Restaurant mit ihren Taten konfrontiert: „Du musst doch bereuen, bitte!“, fleht er sie an. Doch sie bereut nicht nur nichts, sondern schimpft auch noch auf „die Juden“. Sie schweigt zur Frage nach der Schuld und beharrt auf ihrer Opferrolle. Eine Antwort gibt sie erst ganz zum Schluss, wenn sie zu den sonoren Klängen einer Holocaust-Doku im Fernsehen nach einem letzten Blick in den Spiegel aus dem Fenster springt.

Wie nah der Film an der echten Stella Goldschlag ist, wie korrekt er den historischen Kontext der Figur nachzeichnet, ob er Klischees über jüdische Kollaborateure bedient und übernimmt und wichtige Grautöne übersieht, soll und muss unbedingt diskutiert werden. Eines muss man dem Film von Kilian Riedhof aber lassen. Er hält die Ambivalenzen aus, entlastet uns nicht mit moralischer Schwarz-Weiß-Malerei und zeigt die Unmöglichkeit eines eindeutigen Urteils. Vor allem die Frage nach der Schuld hallt über den Film hinaus laut nach. Und das ist auch gut so, findet Antisemitismusforscher und Zeithistoriker Philipp Dinkelaker und erinnert zu Recht an die historische Ausgangslage: „Die als Jüdin verfolgte Stella Goldschlag hat man mit Folter und dem Leben ihrer Eltern zum Verrat anderer Verfolgter zwingen müssen. Viele nichtjüdische Deutsche taten dies freiwillig.“1

1) Dinkelaker, Ph.: „Stella. Ein Leben“. Eine deutsche Anmaßung. In: Zeit Online, 25.01.2024. Abrufbar unter: www.zeit.de (letzter Zugriff: 14.01.2025)

 

Freigegeben ab 12 Jahren | ab 20 Uhr
 

 

Der Film thematisiert die Grausamkeiten des Holocausts und die Frage nach der persönlichen Schuld der Protagonistin, die zwischen Opfer- und Täterrolle oszilliert. Ein absolut anspruchsvoller Stoff für junge Zuschauende. Die Originalversion wurde von der FSK ab 16 Jahren freigegeben; der FSF lag eine gekürzte Fassung vor. Diese ist auf der Bildebene moderat und sensibel inszeniert. Gewalt wird selten explizit dargestellt, ist jedoch durch ihre emotionale und psychologische Wirkung stark präsent. Szenen wie die Deportation von Juden, Verhöre und Stellas Zwangsarbeit für die Gestapo erzeugen eine angespannte Atmosphäre. Andere Szenen enthalten Andeutungen sexueller Gewalt und Machtmissbrauch, jedoch werden auch diese nicht explizit gezeigt. Besonders zentral ist die Darstellung von Verrat als Überlebensstrategie und dessen psychologischen Auswirkungen. Die Geschichte zeigt eindrücklich die moralischen Konflikte, die sich durch die erzwungene Kollaboration mit der Gestapo ergeben.

Jugendschutzrelevanz entwickelt die Frage, ob 12-Jährige bereits in der Lage sind, Stellas Motive, ihre innere Zerrissenheit und ihre Entwicklung vom Opfer zur Täterin, die zeitgleich Opfer bleibt, nachzuvollziehen. Kritisch diskutierte der Ausschuss hier vor allem Stellas Handlungsmotive, die zwischen nachvollziehbaren Zwängen durch die Nazis, der Angst um die Eltern und der Lust am ausschweifenden Leben changieren. Diese komplexe Charakterzeichnung ist herausfordernd, der Verlust moralischer Orientierung könnte bei jüngeren Zuschauenden zu Verunsicherung führen. Und das ist sogar erwünscht. Ziel des Filmes ist nämlich, genau diese Zerrissenheit und Unsicherheit bei den Zuschauenden zu evozieren, was ein klares Urteil über Stellas Taten erschwert. 12-Jährigen wird insgesamt zugetraut, den Film als historisches Drama einordnen und ausreichend distanziert wahrnehmen zu können. Die Protagonistin wird eindeutig als Antiheldin inszeniert und birgt kein irreführendes Identifikationspotenzial. Die Handlung fördert zudem die Auseinandersetzung mit den Grausamkeiten der NS-Zeit und der Schoah, die der Altersgruppe durchaus zumutbar und für ihre Meinungs- und Bewusstseinsbildung bedeutsam ist. Angesichts dessen werden auch die moralischen Ambivalenzen als zumutbar für 12-Jährige bewertet. Im Idealfall führen sie zu Fragen. Nach historischen und persönlichen Abgründen.
 

Über die Autorin:

Sibylle Kyeck studierte Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften und Neuere Deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin. Neben ihrer Prüftätigkeit für die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) arbeitet sie als freiberufliche Journalistin und Lektorin.

Bitte beachten Sie:

Bei den Altersfreigaben handelt es sich nicht um pädagogische Empfehlungen, sondern um die Angabe der Altersstufe, für die ein Medieninhalt nach Einschätzung der Prüferinnen und Prüfer keine entwicklungsbeeinträchtigende Wirkung hat.

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Hinweis:

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