Eher Mikrokosmos als Milieu
Die Dokuserie „Reeperbahn privat! Das wahre Leben auf dem Kiez“

- Reeperbahn privat! Das tägliche Leben auf dem Kiez
- D 2018–Dokumentation/Reportage
- Anbieter
- RTLZWEI
- Zu sehen
- ab 29.08.2024
Die Hamburger Reeperbahn, die sündigste Meile der Welt. Ein Vergnügungsviertel. Aber auch ein Ort, an dem Menschen zu Hause sind. Hinter den Kulissen spielt sich ihr ganz normales Leben ab. Eines haben sie alle gemeinsam. Sie wollen auf dem Hamburger Kiez ihr Glück finden.“
So beginnen die Folgen der dokumentarischen Serie Reeperbahn privat! Das wahre Leben auf dem Kiez. Sehen wir noch beim ersten Satz Bilder, die die Klischees eines Rotlicht- und Feierviertels bedienen, sind wir spätestens bei der zweiten Aussage bei den dort arbeitenden Menschen und deren Alltag, der die Suche nach Glück und Sinn einschließt.
Die Serie porträtiert unterschiedlichste Menschen in ihrer Welt, einer Welt, die oft genug stereotyp als „Milieu“ – von glamourös über verrucht bis kriminell – dargestellt wird. Reeperbahn privat! hingegen lässt sich auf die Menschen ein, die hier arbeiten und leben.
Da sind die selbstständigen Sexarbeiter*innen Kitty und Monika: Kitty bietet ihre sexuellen Dienstleistungen in einem eigens gemieteten Zimmer an und fährt auch zu „Hausbesuchen“. Die ebenfalls selbständige und erfahrene Domina Monika arbeitet auf der Herbertstraße, einem vor den Blicken der Öffentlichkeit geschützten Bereich. Indem sie von ihrem Arbeitsalltag berichten, erfahren wir etwas von den Routinen, den Besonderheiten, aber auch der Härte und den sozialen Zumutungen, die Sexarbeit mit sich bringt. Kitty und Monika berichten von der Aufmerksamkeit, die der Beruf abverlangt und vom sehr direkten Kontakt zu den Kunden, der emotional nachwirkt, und davon, wie sich Freundeskreis und Familie nach ihrer Entscheidung für Sexarbeit ausdünnte bzw. ihr Beruf die Partnersuche erschwert.
Da ist der Koberer und Türsteher Fabian, dem seine Arbeit viel bedeutet, der jedoch die Beziehung zu seiner Frau, die er ob seiner Nachtschichten kaum sieht, nicht aus den Augen verlieren möchte.
Da ist die ehemalige Sexarbeiterin Frances, die jetzt an der Bar im Elbschlosskeller arbeitet und dort auch schon mal allein die Regeln gegen die alkoholisierte Kundschaft durchsetzen muss. Gleichzeitig arbeitet sie hart an sich selbst, um ihre elfjährige Tochter aus der Betreuung durch das Jugendamt wieder zu sich nach Hause holen zu dürfen.
Daniel und Susanna ringen um ihr Familienleben, während sie eine legendäre, rund um die Uhr geöffnete Kneipe betreiben, erhitzte Gemüter kühlen, Hausverbote erteilen und auch mal eine Bank für die Obdachlosen freihalten.
Helmut alias „Schnecke“, ein einstiger Bordell-Betreiber und nun in Sachen Kieztouren unterwegs, sinniert bei der Betreuung seines dementen Vaters über Alter und Vergänglichkeit, bevor er die aufkommende Angst mit einer deftigen Anekdote aus früheren Tagen wegwischt.
Und da ist die Künstler*in Veuve, die sich ihrem biologischen Geschlecht nicht zugehörig fühlt. In ihrer Jugend wurde sie ausgegrenzt und gemobbt. Dank der auf dem Kiez erfahrenen Solidarität entdeckte sie ihre Stärke und Liebenswürdigkeit, sodass sie heute offen ihre Queerness leben kann. Umgeben und unterstützt von ihren Freund*innen kann sie erstmals offen über eine Transition nachdenken.
Probearbeiten im Elbschlosskeller! | Reeperbahn privat! (RTLZWEI Dokus, 24.10.2023)
Was sich in dem Format zeigt, ist weniger Milieu als vielmehr Mikrokosmos – facettenreich und realitätsnah. In den verschiedenen Episoden lernen wir Menschen unterschiedlichster Herkunft, Lebensentwürfe, Arbeitsstellen und (sexuellen) Orientierungen kennen. Sie verbindet nicht nur der Ort, an dem sexuelle Dienstleistungen, Partys und oft genug Illusionen verkauft werden. Sie verbindet auch die Lebenserfahrung, die sie miteinander teilen, ebenso wie ihre Arbeit, ihre Ängste, Nöte und Konflikte. Nicht zuletzt erzählt die Serie neben dem harten Alltag und dem Sich-Durchbeißen auch von Freundschaft, Zusammenhalt und gegenseitiger Unterstützung – Botschaften, die auch Kindern und Jugendlichen Orientierung bieten.
Die Entzauberung der Sexarbeitswelt
Sexarbeit wird, wenn sie konkret behandelt wird, eher sachlich gezeigt, überdies erklärt und kritisch eingeordnet. Explizite bzw. potenziell überfordernde Szenen werden vermieden. Soziale Themen rund um den Beruf, wie die immer wieder prekäre Existenzsicherung, die erschwerte Ausübung der Arbeit im Alter sowie fehlende soziale Kontakte außerhalb der Sexarbeitswelt und erlittene Einsamkeit stehen im Vordergrund. So wird die Sexarbeit von diversen Zuschreibungen gelöst, wenngleich kurze Einspieler nach den Werbepausen auf das berufsbedingt fluide Spiel mit Erwartungen verweisen. Doch die differenzierten und empathischen Darstellungen der Arbeits- und Lebenswelt bis hin zu sehr persönlichen Einblicken überwiegen: Einblicke in Lebens- und Familienkrisen wie bei Daniel und Susanna, in wichtige Entscheidungssituationen wie bei Veuves Überlegungen zur Transition oder in Konsequenzen aus vorherigen Lebenskrisen wie bei Frances Ringen um ihre Tochter.
Freigegeben ab 12 Jahren | ab 20 Uhr
Bis auf sehr wenige Ausnahmen sahen die FSF-Prüfausschüsse bei dieser Serie, die sich an ein erwachsenes Publikum richtet, 12-Jährige in der Lage, die Themen – trotz mitunter derber Sprache oder rauer Atmosphäre – angemessen einzuordnen und verarbeiten zu können. Gewalt wird von den Protagonist*innen abgelehnt. Auch eine übermäßige Angsterzeugung bei 12-Jährigen vermuteten die FSF-Prüfer*innen in der Mehrzahl nicht. Die Härten und Gefährdungen der Sexarbeit und des Milieus werden benannt, aber nicht in Szene gesetzt. Das für den Jugendmedienschutz relevante Wirkrisiko liegt eher im Bereich der sozialethischen Desorientierung, die auch immer wieder kritisch diskutiert wurde – in Bezug auf die Darstellung von Sexualpraktiken wie z. B. BDSM, auf die explizite Sprache, einen möglichen Voyeurismus oder die teils im Anekdotischen verharrende unkritische Darstellung von ehemaligen Zuhältern als sogenannte Kiez-Größen.
Doch überwiegen die deutlichen Einordnungen im Kommentar, die die Professionalität der Sexarbeiter*innen und das Regelwerk besagter Sexualpraktiken sachlich erklären. Ihren Protagonist*innen gegenüber bleibt die Serie respektvoll, vermeidet die Reduzierung auf Klischees und voyeuristische Darstellungen. Eher werden Stereotype mal en passant ausgehebelt und erübrigen sich wie bei ganzkörpertätowierten fürsorglichen Familienvätern. Die zumeist älteren Protagonist*innen wirken zudem distanzierend, so stellen beispielsweise nicht altern wollende „Kiez-Größen“ aus den 1970er- und 1980er-Jahren für 12-Jährige keine Vorbildfiguren dar. In der Gesamtheit werden die Arbeit und die Probleme der Protagonist*innen angemessen eingeordnet – vor allem bei Themen, die für Jugendliche in der sexuellen Such- und Findungsphase wichtig sind wie die Frage der eigenen Verortung im Geschlechterkontinuum.
Über die Autorin:
Bianca Bodau ist Soziologin (HU Berlin) und Regisseurin (Filmuniversität KONRAD WOLF Potsdam-Babelsberg) und seit 2003 als selbständige Autorin, Filmregisseurin und Produzentin (www.tigertv.de) tätig.
Bitte beachten Sie:
Bei den Altersfreigaben handelt es sich nicht um pädagogische Empfehlungen, sondern um die Angabe der Altersstufe, für die ein Medieninhalt nach Einschätzung der Prüferinnen und Prüfer keine entwicklungsbeeinträchtigende Wirkung hat.
Weiterlesen: Sendezeiten und Altersfreigaben
Hinweis:
Pay-TV-Anbieter oder Streamingdienste können eine Jugendschutzsperre aktivieren, die von den Zuschauerinnen und Zuschauern mit der Eingabe einer Jugendschutz-PIN freigeschaltet werden muss. In dem Fall gelten nicht die üblichen Sendezeitbeschränkungen und Schnittauflagen. Weitere Informationen zu Vorschriften und Anforderungen an digitale Vorsperren als Alternative zur Vergabe von Sendezeitbeschränkungen sind im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (§ 5 Abs. 3 Nr. 1; § 9 Abs. 2 JMStV) sowie in der Jugendschutzsatzung der Landesmedienanstalten (§ 2 bis § 5 JSS) zu finden.
Weiterlesen: Jugendschutz bei Streamingdiensten