Killer mit Alzheimer
„Ein guter Mensch“ geht in die nächste Runde
- Ein guter Mensch
- Türkei 2018/2023Krimidrama
- Anbieter
- MagentaTV
- Zu sehen
- ab 05.11.2024
Die zweite Staffel des türkischen Krimidramas Ein guter Mensch (Şahsiyet) läuft derzeit bei MagentaTV. Nach dem Überraschungserfolg der ersten Staffel (2018), die dem Hauptdarsteller Haluk Bilginer 2019 sogar den International Emmy Award einbrachte, wird die skurrile Story um den an Alzheimer erkrankten Pensionär und Rächer Agâh Beyoğlu fortgesetzt. Als qualitativ hochwertige Serie sorgte bereits die erste Staffel für Furore, noch dazu, weil es türkische Serien bis dato kaum auf den deutschen TV-Markt schafften.
Skurrile Selbstjustiz
Die zweite Staffel setzt beim Plot und Cast wieder auf Altbewährtes. Handeln, bevor es zu spät und alles vergessen ist. Agâh wird sporadisch von seinen Erinnerungen heimgesucht – auch von denen an seine Morde. Ausgangspunkt dieser erstaunlichen Entwicklung ist seine Tochter Zuhal (Şebnem Bozoklu), die ihm ein neues, aber noch nicht zugelassenes Medikament gibt. Er gesteht der Polizei seine Taten, doch die glaubt ihm nicht. Seine Flashbacks haben ihm aber nicht nur seine eigenen Taten wieder vor Augen geführt, sondern auch ein altes, ungesühntes Verbrechen kommt ihm wieder in den Sinn. Und so begibt sich Agâh erneut auf seinen seltsamen Selbstjustiz-Trip, bevor er wieder alles vergisst. Das ist nicht ganz einfach, da er mit Kader (Erdal Özyağcılar) einen brutalen Gegenspieler hat.
Die Fortsetzung ist sehenswert. Als 2020 die deutschsprachige Fassung der ersten Staffel bei MagentaTV ausgestrahlt wurde, schrieb Jan Freitag im Tagesspiegel, dass der türkische Theaterstar Haluk Bilginer seiner Figur Agâh „eine Ambivalenz von beispielloser Authentizität“ verleihe, „ohne sie mit Bedeutung zu überfrachten“. Daran hat sich in den neuen Folgen nichts geändert. Die groteske Kombination von Alzheimerthematik und Racheplot ist in seiner Eigenwilligkeit faszinierend. Hoffnung, Zweifel und Verunsicherung wechseln sich ab, wodurch Melancholie und Komik stets nah beieinander sind. Das Publikum ist herausgefordert, sich die Frage zu stellen, was hier eigentlich wahr ist. Dabei setzt die Serie interessante dramaturgische Akzente, wenn beispielsweise Agâhs verstorbene Frau Mebrure ihn als Geist berät. Das ist witzig und verwirrend.
Trailer Ein guter Mensch (Staffel 2, KinoCheck Heimkino, 05.11.2024)
Kulturelle Bildung mal anders
Hier wird nicht nur gemordet, sondern darüber hinaus tief in die türkische Seele geblickt. Bei der Geschichte handelt es sich nur oberflächlich um eine selbstjustizielle Verbrecherjagd.
Gezeigt wird eine ambivalente moderne türkische Gesellschaft, in der generationenübergreifende Interessenskonflikte ganz alltäglich sind, die aber trotzdem von einem angenehmen Respekt gegenüber älteren Menschen geprägt ist. Souverän und selbstverständlich agieren hier Pensionäre, fitte oder gebrechliche ältere Menschen im Hier und Jetzt, ohne dabei einer Lächerlichkeit preisgegeben zu werden, wie es sonst in komödienähnlichen Formaten üblich ist. Hier ist der Vierklang aus Altern, Vergessen, Sterben und Lebensvitalität in einer sehenswerten, melancholischen Weise zusammengefügt. Auch Konfliktthemen wie die Kurdenfrage oder das Verhältnis von Modernität und Tradition werden in der Serie ohne Scheu verhandelt. Sie ist damit zusätzlich ein veritables Stück kultureller Bildung in Sachen Türkei, das man eher selten auf dem deutschen Streaming- und TV-Markt angeboten bekommt.
Weiterführende Quelle:
Freitag, J.: Türkische Serie „Ein guter Mensch“. Die Schöne und das Biest. In: Tagesspiegel Online, 08.10.2020. Abrufbar unter: www.tagesspiegel.de (letzter Zugriff: 12.11.2024)
Freigegeben ab 12 und ab 16 Jahren | ab 20 Uhr und ab 22 Uhr
Die cineastische Bildsprache ist nicht immer leicht zu decodieren. Sie enthält skurrile Charaktere, die aber durch ihr höheres Alter kaum anschlussfähig für Kinder und Jugendliche sind, sodass sie bei ambivalenten Handlungen nicht identifikationsstiftend wirken.
Es dominiert eine empathische, dialoglastige Inszenierung, die teils durch Gewalthandlungen gebrochen wird. Sie weist zudem melancholische und bisweilen groteske Momente auf, sodass die Gewalt in der Gesamtwirkung nicht nachhaltig ängstigend wirkt. Der Stil der Serie mit längeren statischen Einstellungen, viel türkischem Lokalkolorit, poetischen und witzigen Momenten wird als hinreichend entlastend eingeordnet. Gewalthandlungen sind nicht übermäßig drastisch oder positiv inszeniert, sodass das Risiko einer Gewaltbefürwortung ebenfalls ausgeschlossen werden kann.
Die Figurenzeichnungen sind komplex und nicht darauf angelegt, gewalttätige oder andere sozial unverantwortbare Verhaltensmuster zu legitimieren. Die Verlässlichkeit der Figuren ist aufgrund der Alzheimerthematik immer wieder gebrochen, wodurch die Erinnerungen und Handlungen Agâhs oft nicht eindeutig bewertbar sind. Das ist für Kinder durchaus irritierend. Eine Übertragung ambivalenter Einstellungen auf die Lebenswelt von Kindern ab 12 Jahren wird jedoch nicht vermutet. Es gibt viel Familienkontext, aber nur wenig belastende Bezüge zu Entwicklungsthemen heranwachsender Kinder. Eine sozialethische Desorientierung ist bei dieser Altersgruppe nicht zu befürchten.
Bis auf eine Episode wurden alle Folgen ab 12 Jahren für das Hauptabendprogramm freigegeben.
Über den Autor:
Dr. Uwe Breitenborn ist hauptamtlicher Prüfer bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), Dozent, Autor und Bildungsreferent bei der Medienwerkstatt Potsdam.
Bitte beachten Sie:
Bei den Altersfreigaben handelt es sich nicht um pädagogische Empfehlungen, sondern um die Angabe der Altersstufe, für die ein Medieninhalt nach Einschätzung der Prüferinnen und Prüfer keine entwicklungsbeeinträchtigende Wirkung hat.
Weiterlesen: Sendezeiten und Altersfreigaben
Hinweis:
Pay-TV-Anbieter oder Streamingdienste können eine Jugendschutzsperre aktivieren, die von den Zuschauerinnen und Zuschauern mit der Eingabe einer Jugendschutz-PIN freigeschaltet werden muss. In dem Fall gelten nicht die üblichen Sendezeitbeschränkungen und Schnittauflagen. Weitere Informationen zu Vorschriften und Anforderungen an digitale Vorsperren als Alternative zur Vergabe von Sendezeitbeschränkungen sind im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (§ 5 Abs. 3 Nr. 1; § 9 Abs. 2 JMStV) sowie in der Jugendschutzsatzung der Landesmedienanstalten (§ 2 bis § 5 JSS) zu finden.
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