Krieg der verlorenen Seelen

Die Anime-Serie „86 Eighty-Six“

86 EIGTHY-SIX (© 2020 Asato Asato/KADOKAWA CORPORATION7Project-86)
86 Eighty-Six
Japan 2021Animation
Anbieter
Joyn | ProSieben Fun
Zu sehen
ab 19.08.2024 (Joyn) | 26.08.2024 (ProSieben Fun)

Manga-Comics bieten oft einen unwiderstehlichen Mix aus Gewalt, Kindlichkeit und Melancholie, der durchaus Spielraum für gesellschaftsrelevante, psychosoziale Reflexionen lässt. So verhält es sich zumindest mit der japanischen Light Novel-Reihe 86 Eighty-Six von Asato Asato, die erstmals 2017 im Magazin „Dengeki Bunko“ publiziert wurde, illustriert von Shirabii und später ins Deutsche übersetzt von Roman Lempert. Als Manga mit den Zeichnungen von Motoki Yoshihara startete sie im Jahr darauf, um 2021 dann noch als Anime-Serie im japanischen TV aufzutauchen. Mit großem Erfolg.

86 zählt zum Genre Military-Science-Fiction (MSF), besitzt aber auch eine gehörige Portion Romance. Unter MSF versteht man Geschichten, die sich auf militärische Auseinandersetzungen an futuristischen Orten konzentrieren. Die Protagonist:innen sind in kriegerische Konflikte verwickelt, die Kombattant:innen können veränderte Humanoide, Aliens, Roboter oder Maschinen mit hochentwickelten Waffensystemen sein. Die Logik des Kämpfens und Überlebens dominiert diese Geschichten. Zu den Klassikern des Genres zählt unter anderem Robert A. Heinleins insektoides Schlacht-Gemetzel Starship Troopers. Oft findet man für diese Art von Science-Fiction, in der es von pilotierten Laufrobotern und Kriegsmaschinen wimmelt, auch die Bezeichnung „Mecha“. In der Top 50-Liste der besten Mecha-Animes aller Zeiten der Anime-Plattform Anilist.co ist 86 Eighty-Six immerhin auf Platz 2 zu finden.
 

Melancholisch, dystopisch

Die Mangaserie 86 spielt in der Republik San Magnolia, die seit Jahren in einem Krieg mit dem Imperium von Giad steht. Im verlustreichen Kampf gegen die autonomen Legionen des Imperiums gelingt es der Republik eigene effiziente Einheiten zu entwickeln, die Juggernauts. Die Regierung behauptet, sie führe mit diesen scheinbar unbemannten Drohnen einen unblutigen Krieg, aber in Wirklichkeit werden sie von den Colorata gesteuert, eine unterdrückte Minderheit, die „86“ genannt wird. Der Name geht auf den 86. Distrikt zurück, in dem die einstmals gleichberechtigten Bürger eingesperrt sind. Die dominante Alba-Rasse, die in den übrigen 85 Distrikten herrscht, betrachtet diese Minderheit als Untermenschen. Sie beraubt sie ihrer Namen, hält sie in Internierungslagern gefangen und lässt sie im Krieg kämpfen. Der vermeintlich unblutige Krieg fordert also tatsächlich viele menschliche Opfer.

Im Zentrum der Geschichte stehen Shinei, der Anführer des Spearhead-Geschwaders an der Ostfront und Lena (Vladilena Milizé), eine Aktivistin und Alba-Offizierin aus einer adeligen Familie, die sich gegen die Misshandlung der Colorata und die Lügen der Regierung auflehnt. Sie wird mit 16 Jahren schon Major und führt mit Shinei „The Undertaker“ Nouzen eine Eliteeinheit von 86er-Kämpfern. Diese Einheit ist für ihre harten Kampfbedingungen berüchtigt, insbesondere durch den rücksichtslosen Shinei, der die Handler oft durchdrehen oder gar Selbstmord begehen lässt. Grausamkeit, Tragödie und Gerechtigkeitswillen sind hier nah beieinander. Die Konstellationen sind höchst ambivalent, aber gerade deswegen auch sehr attraktiv. Teenager-affine Beziehungsebenen sowie ein weitverzweigtes Figurennetz durchziehen diese Serie mit teils interessanten semantischen Inserts. So haben beispielsweise Protagonist:innen der Republik und des Imperiums Giad deutsche Namen wie Augusta Frederica Adel-Adler, Grethe Wenzel oder Jérôme Karlstahl. Der Interimspräsident und oberste Befehlshaber der Föderalen Republik Giad heißt Ernst Zimmermann. Die Konnotationen zur belasteten deutschen Geschichte sind offensichtlich und gut gesetzte Irritationen in diesem Manga-Kosmos, der viele ethische Fragen aufwirft.
 

Trailer 86 Eighty-Six (Crunchyroll, 06.04.2021)


Nachdenklich, anschlussfähig

Die Serie 86 ist keine leichte Kost und lädt ein, über die Themen Krieg, Diskriminierung und die psychologischen Auswirkungen solch unerbittlicher Szenarien nachzudenken. Sie enthält intensive Gewaltdarstellungen, Kriegsszenen und thematisiert psychische Traumata, die durch Kampfhandlungen und systematische Unterdrückung entstehen. Damit hat sie das Potenzial, junge Menschen für ethische Fragen hinsichtlich sozialer Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Gleichberechtigung zu sensibilisieren. Viele Charaktere, insbesondere Lena, sind in ihrem Kampf gegen Ungerechtigkeit, durchaus vorbildhaft für Jugendliche. Die Botschaft der Serie ist vielschichtig, ein zentrales Thema ist die Kritik an der Entmenschlichung bestimmter Gruppen und die Aufforderung, den Wert jedes einzelnen Lebens anzuerkennen. Sie regt zum Nachdenken über die Bedeutung von Gleichheit und Menschlichkeit an, selbst in Zeiten eines Konflikts.
 

 

Freigegeben ab 12 Jahren | ab 20 Uhr
 

 

Die Anime-Serie spielt in einer dystopischen Welt im Kriegszustand. Dementsprechend ist das gesamte Setting oft düster und von Bedrohungen geprägt. Einerseits sind Ästhetik und Setting realitätsfern, andererseits wirkt die Serie sehr jugendaffin und schließt in ihrer Atmosphäre und den Themen (Familie, Geschwister, Rivalität, Schuldgefühle, Beschützerinstinkt, Kämpfe, Beziehungen, Suche nach Gerechtigkeit) unmittelbar an die Lebenswelt von Pre-Teens und Jugendlichen an, so dass den jungen, attraktiven Protagonist:innen durchaus ein hoher Orientierungswert zugesprochen werden kann.

Der Prüfausschuss sah die vorgelegten Episoden der Serie als gut verkraftbar für ab 12-Jährige an, die das Handlungsgeschehen hinreichend verstehen und die moralischen Fragestellungen nachvollziehen können. Das Kriegsgeschehen wirkt punktuell sehr dicht, die Rhetorik und die Haltung der Protagonist:innen sind durchaus von einer Notwendigkeit von Gewaltanwendung geprägt. Da dies jedoch im Zusammenhang mit dem Kriegszustand steht, ist von einer Übertragbarkeit von Gewaltfaszination auf 12-Jährige nicht auszugehen. Die jugendlichen 86er zeigen sich kampfbereit, jedoch auch realistisch im Hinblick auf ihr mögliches Schicksal; somit werden keine kriegs- bzw. gewaltbefürwortenden Botschaften vermittelt.

Die Gewaltszenen und Bedrohungsmomente sind teils sehr eindringlich, werden aber hinreichend vorbereitet und kontextualisiert, so dass sie einordenbar sind. Der Handlungsplot der Serie ist oft fokussiert auf Kampf, Verteidigung und Kriegsstrategien, hat aber auch witzige, entlastende Momente. Zudem wirkt der Anime-Stil durchaus distanzierend. Für 12-Jährige ist dies in der hier dargebrachten Inszenierung gut verkraftbar.

Über den Autor:

Dr. Uwe Breitenborn ist hauptamtlicher Prüfer bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), Dozent, Autor und Bildungsreferent bei der Medienwerkstatt Potsdam.

Bitte beachten Sie:

Bei den Altersfreigaben handelt es sich nicht um pädagogische Empfehlungen, sondern um die Angabe der Altersstufe, für die ein Medieninhalt nach Einschätzung der Prüferinnen und Prüfer keine entwicklungsbeeinträchtigende Wirkung hat.

Weiterlesen:   Sendezeiten und Altersfreigaben

 

Hinweis:

Pay-TV-Anbieter oder Streamingdienste können eine Jugendschutzsperre aktivieren, die von den Zuschauerinnen und Zuschauern mit der Eingabe einer Jugendschutz-PIN freigeschaltet werden muss. In dem Fall gelten nicht die üblichen Sendezeitbeschränkungen und Schnittauflagen. Weitere Informationen zu Vorschriften und Anforderungen an digitale Vorsperren als Alternative zur Vergabe von Sendezeitbeschränkungen sind im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (§ 5 Abs. 3 Nr. 1; § 9 Abs. 2 JMStV) sowie in der Jugendschutzsatzung der Landesmedienanstalten (§ 2 bis § 5 JSS) zu finden.

Weiterlesen:   Jugendschutz bei Streamingdiensten