Gratwanderung eines Indizienprozesses

Die True-Crime-Doku „Der Parkhausmord – Wer tötete Charlotte Böhringer?“

Jana Papenbroock
DER PARKHAUSMORD - WER TÖTETE CHARLOTTE BÖHRINGER? (Bild: © Sky/Bavaria)
Der Parkhausmord - Wer tötete Charlotte Böhringer?
D 2024True Crime
Anbieter
Sky
Zu sehen
ab 30.05.2024

Die True-Crime-Dokumentation Der Parkhausmord – Wer tötete Charlotte Böhringer? arbeitet den 2006 begangenen Mord an der Münchner Millionärin Charlotte Böhringer auf. Das Sky Original hinterfragt aus unterschiedlichen, teils konträren Perspektiven die Verurteilung von Benedikt Toth, dem Neffen der Ermordeten.

Toth wird in einem Indizienprozess verurteilt: ein Strafverfahren ohne Geständnis des Angeklagten, ohne Beweise wie Tatwerkzeuge oder Tatzeugen, allein auf der Grundlage von Beweisanzeichen. Der Bundesgerichtshof beschreibt die Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung im Zivilprozess aufgrund von Indizien in seiner berühmt gewordenen Anastasia-Entscheidung: „Hauptstück des Indizienbeweises ist […] nicht die eigentliche Indiztatsache, sondern der daran anknüpfende weitere Denkprozeß, kraft dessen auf das Gegebensein der rechtserheblichen weiteren Tatsache geschlossen wird“ (Bundesgerichtshof, 17.02.1970).

Dass jener Denkprozess unter Umständen jedoch von einem unbewussten Bias gegenüber dem Angeklagten geprägt sein kann, wird bislang in der Rechtsprechung womöglich nicht hinreichend gewürdigt. Zumindest legt das die vorliegende Dokumentation nahe. Unter anderem erklärt darin ein Jurist, dass eine erste intuitive Einordnung der Sachverhalte durch Richter im Verlauf eines Strafverfahrens – wenn überhaupt – nur sehr schwer zu ändern sei. Der weitere Prozess orientiere sich infolgedessen an einer entstandenen Leitrichtung.

Wer am Anfang eines Prozesses Fehler macht, wie zu lügen oder sich in Widersprüche zu verwickeln, dessen Glaubwürdigkeit kann sich im weiteren Verlauf kaum bis gar nicht mehr erholen. Toth macht diese Fehler. Der gebürtige Ungar spricht Deutsch als Zweitsprache. Er hat eine ausgeprägt expressive Mimik, wirkt etwas fahrig und ist nicht leicht lesbar. Er verstößt teilweise gegen gesellschaftliche Verhaltensnormen, legt etwa ein erratisches Gebaren an den Tag. Diese Eigenart beschreibt sein Anwalt, die Dokumentation nimmt nicht weiter Bezug darauf, dass Toths ungewöhnliches Verhalten höchstwahrscheinlich maßgeblich an der Urteilsbildung beteiligt war. Toth hat zum Zeitpunkt seiner Verurteilung seinem gesamten sozialen Umfeld vorenthalten, dass er sein Jura-Studium abgebrochen hat. Im ersten Prozess wird davon ausgegangen, dass seine Tante ihn erst nach einem erfolgreichen Studium zum Erben machen wollte, was Recherchen im zweiten Prozess allerdings widerlegen können. Stattdessen kapriziert sich die Prozessleitung auf juristisch nicht hinreichend belastende Indizien, aufgrund derer schließlich das Urteil zu lebenslanger Haft ergeht.

Trailer Der Parkhausmord – Wer tötete Charlotte Böhringer? (Sky Deutschland, 01.03.2024)


17 Jahre hat Toth im Gefängnis verbracht und ist nun, von der Zeit gezeichnet, ein gequälter Mann, der versucht, Frieden mit einem eigentlich nicht hinnehmbaren Freiheitsverlust zu schließen. Am 24.04.2023 ist Toth entlassen worden. Er kommt selbst ausführlich zu Wort in der Doku, für die der 79-jährige Regisseur Gunther Scholz sechs Jahre lang recherchierte. Der Filmemacher und Dokumentarist drehte zuvor zahlreiche DEFA-Spielfilme sowie Justiz-Dokumentarfilme.

Bemerkenswert an der ansonsten genretypischen, tendenziell spekulativen Dokumentation ist die gute Interviewführung, die auch einen Schwerpunkt auf die juristische Spruchpraxis legt und Fachbegriffe erklärt, sowie die Montage, die unterschiedliche Einschätzungen des Prozesses durch den Schnitt selbst entkräftet oder validiert, ohne dass ein suggestives Voiceover zur Meinungsbildung des Rezipienten nötig wäre. Beispielsweise spricht die erfahrene Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen an einer Stelle über die Merkwürdigkeit, dass Toths DNA im Büro der Ermordeten gefunden wurde. Tatsächlich arbeitete der Angeklagte aber tagtäglich in diesem Büro, weswegen DNA-Spuren von ihm dort zu erwarten wären.

Die Doku deutet auch auf andere mögliche Tatverdächtige hin, denen das Gericht 2006 nicht nachging. Es bleibt ein unabgeschlossen wirkender Fall, dessen Revision von den Erkenntnissen der Dokumentation geprägt sein könnte, falls ein neuerlicher Antrag auf Revision nicht wie alle vorherigen abgewiesen wird.
 


Freigegeben ab 12 Jahren | ab 20 Uhr
 

 

Der Parkhausmord bedient sich True-Crime-typischer Versatzstücke aus Tatortaufnahmen, Interviews mit Experten und Juristen, Angehörigen und dem Betroffenen, verzichtet aber auf explizite Darstellungen der außerordentlichen Versehrung der Leiche. Der Tonfall ist relativ sachlich, der Erzählrhythmus eher ruhig. Auch wenn die Doku einen eklatanten Justizirrtum impliziert, stellt sie die grundsätzliche Rechtsstaatlichkeit nicht infrage, weswegen eine sozialethische Desorientierung ab 12-Jähriger ausgeschlossen wurde. Sie deutet vielmehr einen Ausnahmefehler der Justiz an. Toths Schuld kann die Doku nicht klären, jedoch legt sie dar, dass die damals im Prozess herangetragenen Indizienbeweise nicht hinreichend stichhaltig waren und es nicht zu einer Verurteilung hätte kommen dürfen.

Die Tat selbst wird deutlich verurteilt, weswegen keine gewaltbefürwortende Wirkung auf ab 12-Jährige angenommen wurde. Auch eine Ängstigung konnte auf die relativ medienkompetente und bereits genreerfahrene Kohorte der ab 12-jährigen Rezipient:innen im Hauptabendprogramm ausgeschlossen werden.

Quelle:

Bundesgerichtshof, 17.02.1970: Bundesgerichtshof, Urteil vom 17.02.1970, Az. III ZR 139/67. In: Rewis. Abrufbar unter https://rewis.io (letzter Zugriff: 29.05.2024)

 

Über die Autorin:

Jana Papenbroock studierte Film an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Neben ihrer freien Prüftätigkeit für die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) arbeitet sie als Dokumentarfilmemacherin.

Bitte beachten Sie:

Bei den Altersfreigaben handelt es sich nicht um pädagogische Empfehlungen, sondern um die Angabe der Altersstufe, für die ein Medieninhalt nach Einschätzung der Prüferinnen und Prüfer keine entwicklungsbeeinträchtigende Wirkung hat.

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