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Roberto Simanowski:

Der Bildschirm als Fenster zur Welt und umgekehrt

In: tv diskurs. Verantwortung in audiovisuellen Medien, 25. Jg., 3/2021 (Ausgabe 97), S. 4-7

Lange war der Bildschirm das Fenster zur Welt, die sich auf ihm, vermittelt durch die Massenmedien und nach deren Regeln, dem Publikum darbot. Verbindet sich der Bildschirm mit einer Kamera, werden die Empfänger zum Sender, sind sie die Figuren im Bild. Haben alle Nutzer Bildschirm und Kamera, sind alle Sender und Empfänger zugleich. Gemeinschaftliches Reality-TV. Dies ist die Situation, in der wir uns in der Pandemie wiederfinden; man nennt es Homeoffice und Zoom-Meeting. Mit dieser Konstellation ist die Trennwand zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum noch dünner geworden. Plötzlich schaut man sich in die Wohn- und Schlafzimmer, sieht die Möbel, die Bücher, die Familienfotos und auch den kitschigen Kerzenständer hinten rechts. Natürlich kann man sich so präsentieren, wie man gesehen werden will. Aber wenn die Arbeitsbesprechung zu Hause stattfindet, wenn die Öffentlichkeit immer nur einen Klick im Interface entfernt ist, hat man nie alles unter Kontrolle: weder was die Welt über einen herausfinden noch was man ihr ungewollt verraten mag. Die Kommunikationsform, die die Pandemie über uns gebracht hat und die das Virus zweifellos überleben wird, bringt Kollateralschäden mit sich, die niemanden zu stören scheinen: Einerseits werden unsere heimlichen Gedanken zugänglich, andererseits unsere heimlichen Taten.

  • Roberto Simanowski (Foto: privat)

    Dr. Roberto Simanowski ist Kultur- und Medienphilosoph.

 

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